Unser Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik hat im Auftrag der Mobilitätsagentur Wien eine Begleituntersuchung der Wiener Pop-up-Radinfrastruktur im Jahr 2020 (und der temporären Begegnungszonen) durchgeführt. Die Ergebnisse sind eindeutig: die Pop-up-Radinfrastruktur in der Wagramer Straße, Lassallestraße, Praterstraße und Hörlgasse wurde sehr gut angenommen.
Die umgesetzten 2,4 km waren allerdings viel zu wenig. Über 250 Kilometer des Hauptradnetzes der Stadt Wien verlaufen entlang von Hauptstraßen und verfügen über keine sichere und attraktive Radinfrastruktur. Die Radverkehrsmengen sind seit Abschluss der Studie weiter gestiegen. Eine Wiedererrichtung und massive Ausweitung der Pop-up-Radinfrastruktur ist dringend notwendig.
Im Abschlussbericht finden sich detaillierte Auswertungen aller vier temporären Radverkehrsanlagen inkl. Tagesganglinien, Nutzungshäufigkeiten und Interpretation. Im Folgenden ein kurzer Auszug.
Wagramer Straße
Mit durchschnittlich 89 % wurde der Pop-up-Radweg auf der Wagramer Straße zwischen Kagraner Brücke und Arbeiterstrandbadstraße am meisten genutzt – stadteinwärts mit 92 % noch stärker als stadtauswärts mit 87 % – obwohl er richtlinienwidrig schmal (1,55 statt 2 Meter) ausgeführt war. Der mit Betonleitwänden von der Fahrbahn abgetrennte Zweirichtungs-Pop-up-Radweg entlastete massiv die sonst von Fußgeher*innen und Radfahrenden im Freizeit- und Alltagsverkehr gemeinsam genützte und häufig überlastete Verkehrsfläche. Die Dringlichkeit einer unverzüglichen Wiedereinrichtung des Pop-up-Radwegs wird aus einem aktuellen Video ersichtlich. Eine rasche, permanente Lösung auch für den weiteren Verlauf der Wagramer Straße bis zum Kagraner Platz sollte im demnächst erwarteten Rad-Bauprogramm nicht fehlen!
Kritikpunkt war – neben der viel zu schmalen Ausführung – die anfänglich unzureichende Markierung der Einfahrten in den Pop-up-Radweg. Durch die Anbringung einer verbesserten Bodenmarkierung konnte der Nutzungsanteil von 67 % auf knapp 90 % gesteigert werden.
Lassallestraße
Der Nutzungsanteil des Pop-up-Radfahrstreifens am stadtauswärts fahrenden Radverkehr auf der Lassallestraße zwischen Venediger Au und Vorgartenstraße lag zwischen 25 % (Mittwoch) und 39 % (Samstag). Die physische Trennung des Einrichtungs-Radfahrstreifens mittels Baustellenbaken und der Entfall der Stellplätze (und damit der Ein- und Ausparkvorgänge) war positiv zu vermerken, die mangelhafte Ausschilderung und vor allem das abrupte Ende im Mischverkehr bereits vor der Kreuzung mit der Vorgartenstraße war ein großes Minus. Mittelfristig ist ein baulich getrennter Zweirichtungsradweg anstelle des Pop-up-Radfahrstreifens notwendig, um die Lücke im Hauptradnetz zwischen Praterstern und flussabwärtsseitiger Reichsbrücke zu schließen und gleichzeitig die Erschließung des Stuwerviertels sicherzustellen. Die existierenden Pläne dazu wurden von der neuen Bezirksvorstehung und Verkehrsstadträtin leider zurückgezogen.
Praterstraße
30 bis 50% der stadtauswärts Radfahrenden nutzten den Pop-up-Radfahrstreifen in der Praterstraße zwischen Aspernbrückengasse und Praterstern. Während im inneren Bereich Baustellenbaken für subjektive Sicherheit sorgten, fehlte diese optische Trennung im äußeren Bereich aufgrund des Erhalts der Parkspur. Mit zunehmender Radverkehrsfrequenz konnte auch ein zunehmender Nutzungsanteil des Pop-up-Radfahrstreifens beobachtet werden, d.h. je mehr Radfahrende auf dem engen und schon seit langem nicht mehr richtlinienkonformen bestehenden Radweg unterwegs waren, desto mehr wichen auf die temporäre Radinfrastruktur aus. Eine permanente Umsetzung ausreichend dimensionierter Radwege auf der Praterstraße in beide Richtungen ist dringend notwendig. Der temporäre Pop-up-Radfahrstreifen im Sommer 2020 hat auch die Machbarkeit der Kfz-Spurreduktion nachgewiesen.
Kritisch anzumerken war vor allem der unzureichend ersichtliche Beginn des Pop-up-Radfahrstreifens, der außerdem bereits in der Aspernbrückengasse erfolgen hätte sollen. Die Kreuzungsbereiche hätten – auch temporär – noch besser als „schützende Kreuzungen“ ausgeführt werden können.
Hörlgasse
Der Pop-up-Radfahrstreifen in der Hörlgasse war der längste (von der Oberen Donaustraße bis zur Universitätsstraße), der am spätesten umgesetzte und der am schwächsten frequentierte (mit durchschnittlich 26 Radfahrenden pro Stunde). Trotzdem nutzen immerhin durchschnittlich 24 % der im Korridor (Berggasse, Hörlgasse, Maria-Theresien-Straße) Bergaufradelnden die temporäre Radinfrastruktur in der Hörlgasse. Aufgrund der mangelhaften physischen Abgrenzung vor allem in den Kreuzungsbereichen nutzten aber über 50 % der in die Liechtensteinstraße abbiegenden Kfz den Pop-up-Radfahrstreifen illegal mit.
Positiv zu erwähnen ist der direkte Anschluss an den Zweirichtungsradweg in der Rembrandtstraße und die durch eine Parkspur geschützte Führung des Radverkehrs in der Türkenstraße. Kritisch war vor allem der fehlende Schutz vor dem Kfz-Verkehr in den Kreuzungsbereichen mit der Liechtensteinstraße und Währinger Straße, die „Baustellen-Optik“ am Anfang der Türkenstraße, die einige von der Nutzung des Pop-up-Radfahrstreifens abgehalten haben könnte, sowie der fehlende sichere Anschluss von der Straße des Achten Mai in die Reichsratsstraße.
Regionale und internationale Entwicklungen und Trends im Radverkehr während der Corona-Krise
In der Corona-Krise haben viele Menschen das Rad als Alltags- und Freizeitverkehrsmittel entdeckt. Der Modal Split des Radverkehrs (der Anteil der Wege, die mit dem Rad zurückgelegt werden) ist in Wien von 7 % im Jahr 2019 auf 9 % im Jahr 2020 gestiegen. An allen 13 Dauerzählstellen zusammen haben die Radverkehrsmengen von 2019 auf 2020 um 12 % zugenommen. Bei den Zählstellen mit überwiegendem Freizeitverkehr betrugen die Steigerungen sogar 33 % (Donaukanal), 36 % (Liesingbach) bzw. 51 % (Links Wienzeile auf Höhe Auer-Welsbach-Park).
International haben Städte auf das vermehrte Radverkehrsaufkommen reagiert, indem sie rasch Platz für sicheres Radfahren geschafft haben – die Pop-up-bikelanes (PUBL), zu Deutsch Pop-up-Radwege waren geboren. Berlin begann Anfang April mit der Markierung erster temporärer Radstreifen, bewarb diese extensiv, und hatte am 9. April 2020 schon einen Regelplan für die „Temporäre Einrichtung und Erweiterung von Radverkehrsanlagen“.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie zweier Berliner Wissenschafter hat nachgewiesen, dass der Radverkehr während der Corona-Krise in Städten, die Pop-up-Radinfrastruktur errichtet haben, um bis zu 48 % stärker gestiegen ist, als in Städten, die keine Maßnahmen gesetzt haben (Studie, Bericht NYT, Bericht Süddeutsche, Bericht ORF, Bericht Kurier). Und eine Pariser Untersuchung zeigt, dass fast 60 % der jetzt angetroffenen Radfahrenden vor Errichtung der (temporären) Radinfrastruktur dort nicht unterwegs waren (Studie, Bericht).
Fazit
Der Bedarf für schnelle und kostengünstige Radinfrastruktur ist gegeben. Sowohl die Radverkehrsmengen an den Zählstellen als auch der Radverkehrsanteil am Modal Split ist im Corona-Jahr 2020 beträchtlich gestiegen. Über 250 Kilometer des Hauptradnetzes der Stadt Wien verlaufen entlang von Hauptstraßen und verfügen über keine sichere und attraktive Radinfrastruktur. Für politische Eitelkeiten ist nicht die Zeit.
Während überall anders weltweit Pop-up-Radwege als schnelle und kostengünstige Möglichkeit erfasst wurden, dem gerade während COVID rasch wachsenden Radverkehr eine adäquate Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wurden sie in Wien als Wahlkampfgag abgetan. Noch immer wären sie dringend notwendig, um zügig aus dem seit Jahrzehnten lückenhaften Fleckerlteppich ein wirkliches Radnetz zu schaffen.
Ulrich Leth im Interview mit Austrian Roadmap 2050